Jan Schüler

Erinnerungen an Rissa

Im Juli 1984 erhielt ich den Ablehnungsbescheid von der Düsseldorfer Kunstakademie, an der ich mich für ein Studium ab dem Wintersemester beworben hatte. Nun lief ich mit meiner Mappe unter dem Arm durch die Flure des Gebäudes und suchte einen Professor, der mich als Gasthörer aufnimmt, in der Hoffnung, die nächste Aufnahmeprüfung zu bestehen. In der ersten Etage klopfte ich an die Tür des Eckraums 104, in dem Rissa gelegentlich Sprechstunde hielt. Während ich meine Arbeiten vor ihr auslegte, musterte sie mich aufmerksam, stellte komplexe Fragen über politische Zusammenhänge, über das Leben im Allgemeinen und interessierte sich für meine Herkunft. Ich machte eine grundsätzliche Erfahrung: Gespräche mit Rissa verlaufen unkonventionell. Ihr in alle Richtungen beweglicher Geist durchdringt Barrieren. Beim Betrachten meiner Porträts von Freunden fragte sie beiläufig, ob ich mich zu Männern hingezogen fühle. Auf diese Offenheit hatte ich im Kunstmilieu gehofft. Eine Stunde war bereits verstrichen, Rissa hatte die Unterhaltung zurück zur Kunst geführt und stellte die Frage nach der Aktualität einer neuen gegenständlichen Malerei in einer noch von ungegenständlichen Tendenzen geprägten Rheinischen Kunstszene. Sie entwarf das Bild einer von allen Moden unabhängigen, zeitlosen Malerei, die sich auf die Stilmittel der Komposition und der Schärfe der Form bezieht. Ich hatte das Gefühl, einer interessanten Persönlichkeit begegnet zu sein, von der ich lernen konnte, und war erfreut über ihre Zusage, mich in ihre Klasse aufzunehmen. Ab März 1985 war ich Gasthörer an der Düsseldorfer Kunstakademie. Im selben Jahr bestand ich die Aufnahmeprüfung. Nach Durchlaufen des sogenannten Orientierungsbereiches nahm Rissa mich 1986 als offiziellen Studenten in ihre Klasse auf. Kolloquien fanden wöchentlich oder manchmal jede zweite Woche statt, in denen sie zu Gesprächen in großer Runde anregte. Anhand von Fragen versuchte sie herauszukitzeln, wie ihre Studenten tickten. Auf diese Weise entstanden freie Unterhaltungen, die sowohl persönliche Äußerungen als auch Meinungen über zeitgenössische Künstler und Kunstströmungen zuließen. In die praktische Arbeit mischte sie sich wenig ein, wissend, dass man Menschen in grundsätzlichen Anlagen ohnehin so gut wie nicht beeinflussen kann. Sie versuchte auch nicht, einen einheitlichen Klassenstil herbeizuführen, der etwa an ihre eigene Malerei angelehnt war. Bei Bilderschauen gab sie formale Korrekturen, wies auf Mängel in der Komposition oder auf eine überflüssige Form hin. „Weglassen“ war eine ihrer Hauptmaxime. Hatte sie sich jedoch ein grundsätzliches Urteil gebildet und erkannte keine Begabung, fragte sie schon einmal, „Wollen sie nicht lieber Kinder bekommen und glücklich werden?“, oder riet: „Werden sie doch Informatiker oder so etwas. Wir brauchen auch Bäcker und Handwerker.“ Nach den Kolloquien nahm mich Rissa ab und zu von der Kunstakademie in den Westerwald mit, wo sie mit Karl Otto Götz seit 1975 lebte. Sie hatte einen Malstil entwickelt, der Volumen nicht durch Farbübergänge und Hell-Dunkel-Abstufungen erzielte, sondern Formen in einzelne Binnenfarbflächen aufteilte, die aus der Fernsicht einen hohen Abstraktionsgrad der Darstellung ergaben. Pinselschwünge, die einzelne Farbflächen durchbrachen, stellten Bezüge zum Informel her. Nächtelang debattierten wir über Kunst und eine Weiterentwicklung der Malerei. Rissa und Karl Otto Götz führten ein offenes Haus, in dem Künstler, Kunsthistoriker und Sammler verkehrten. Neben anderen gehörten der Kunsthistoriker Manfred de la Motte und der Kunstsammler Willi Kemp zu den regelmäßigen Gästen in Wolfenacker. In wechselnden Konstellationen machten wir ausgedehnte Spaziergänge durch den Westerwald bis hinunter zum Rhein.

Dennoch: Einmal im Experimentiermodus des Kunststudenten angekommen und vom herrschenden Geist der Akademie angesteckt – die Aufbruchstimmung der 1960er-Jahre war immer noch präsent –, begann ich, kleine Objekte und Objektbilder anzufertigen, und spielte mit dem Gedanken, die Malerei aufzugeben. Auf der einen Seite gab es an der Akademie Klassen von renommierten Maler-Professoren wie Gerhard Richter, Gotthard Graubner, Dieter Krieg, Markus Lüpertz, Jan Dibbets, A. R. Penck, Michael Buthe, Konrad Klaphek, Rissa und Beate Schiff. Auf der anderen Seite war 1968 ERINNERUN- 115 Marcel Duchamp gestorben, der in jungen Jahren durch die Erfindung des Readymades zu einem Gegner der Ölmalerei avanciert war. Sein Werk hatte in den 1960er-Jahren eine Renaissance erlebt. Fluxus und Happening, Performance, Décollage, Op-Art, Zero, Video und der Erweiterte Kunstbegriff prägten nun das künstlerische Klima. Malerei gab es noch, aber ihre Reputation konnte nicht mehr mit der Avantgarde der Konzeptkunst mithalten. „Hört auf zu malen!“, schrieb Jörg Immendorff 1966 auf eine Leinwand. Zwar hatte die Welle der Neuen Wilden Ende der 1970er-Jahre eine neue Malflut ausgelöst. Doch verzichteten diese Maler auf einen konstruktiven Anspruch. Ihre Gemälde hatten Titel wie Der Betrachter trägt dieses Bild im Kopf nach Hause, um es seiner Familie vorzuführen. Dargestellt war ein kleiner Hund, der ein zahnloses, schreiendes Nilpferd auf einer Bergspitze penetriert (Walter Dahn und JiÄi Georg Dokoupil, 1984), Kotzer (dieselben, 1982), Goldener Mann schlägt Schlampe (Albert Oehlen, 1980) oder Kleine Feierstunde für die Moderne (Volker Tannert, 1982). Stile aus der Vergangenheit wurden in dem Bewusstsein geplündert, zitiert und miteinander verquirlt, dass alles bereits erfunden war. Man sprach von der Postmoderne und der „ironischen Brechung“. Ich machte Pause mit meiner Malerei, bewarb mich mit meinen neuen Objektarbeiten bei Fritz Schwegler und wurde 1989 aufgenommen. Kaum in seiner Klasse, erkannte ich aber, dass für mich doch die Malerei wichtiger war. Mit einigen Gleichgesinnten fand ich mich in einem Malerraum zusammen, der von Schwegler geduldet wurde. Dennoch standen wir außerhalb des Klassengefüges, denn Fritz Schwegler, der seine Professur von Malerei auf Bildhauerei hatte umschrei ben lassen, war der Meinung, „in der Malerei ist alles gesagt“.

Trotz des Wechsels blieb mein Kontakt zu Rissa bestehen. Seit dem ersten Besuch in ihrem Atelier hatte mich die Kühnheit und die Eleganz ihrer Malerei beeindruckt. Seit Mitte der 1960er-Jahre entwickelt Rissa ein zeitloses und geheimnisvolles Werk, das aufgrund des kraftvollen Auftritts durch klare, wuchtige Kompositionen, das Zusammenfassen in große Formen und dem damit einhergehenden Weglassen von Nebensächlichkeiten den Eindruck von Energiefeldern erzeugt, die ein Feuerwerk entfachen, und das in unmittelbarem Dialog mit den abstrakten Arbeiten von Karl Otto Götz steht. Formen werden von Rissa auf eine Art und Weise miteinander verzahnt und in Schwingungen versetzt, dass die Bilder aus der Nähe betrachtet kaum entschlüsselbar sind. Kompositionslinien greifen ineinander über, sind miteinander verschränkt. Erst aus der Fernsicht betrachtet fügen sich die Arbeiten zu einem nachvollziehbaren Ganzen. Auf der anderen Seite strahlen ihre Gemälde trotz leuchtender Farben eine Verhaltenheit und Stille aus, die Begriffe wie Raum und Zeit außer Kraft setzen, die einen „großen Atem“ zutage treten lassen und auf eine überzeitliche Gültigkeit verweisen. Der Gehalt der Dinge wird wichtiger als das Subjektive, da alle Elemente und Teile auf ein Bedeuten außerhalb des Individuellen zielen. Für mich gehört Rissa zu den prägenden Malerpersönlichkeiten unserer Zeit. Es sind nicht nur ihre ungewöhnlichen Kombinationen von Menschen, Tieren und Gegenständen, die in ihren Arbeiten aufeinandertreffen und vertraute Sehgewohnheiten infrage stellen, nicht nur die melancholischen Verweise auf die Vergänglichkeit allen Seins oder ihre erotischen Themen der Mann-Frau-Beziehungen. Rissas Gemälde besitzen eine formale und inhaltliche Schärfe, die den Betrachter verunsichern kann, die „Gefahr“ oder eine Form der Bedrohung suggerieren und die sich einer klaren Deutbarkeit immer wieder entziehen. Eine Nonne, die mit geschlossenen Augen in eine Bockwurst beißt (Hunger, 1966). Ein Koch, der sich scheinbar selbst im Fleischwolf verwurstet (1967). Eine Männerhand, die ein Messer zwischen die Finger einer Frauenhand führt (Das Messer, 1968). Fische, die aus der Tiefe des brennenden Meeres emporspringen (Am Golf, 1991). Ein weiblicher Rosenengel, der an der Stelle einer amputierten Brust eine Rose trägt (1992). Die Rückenfigur eines Mädchens am Meer, das auf den Horizont blickt (Allein, 1997, Gouache). Ein Totenschädel vor Kaffeetasse (Du kriegst nichts, 2004). Wunderbar finde ich auch ihre auf Schwarz- GEN AN RISSA 116 Weiß-Kontrasten basierenden linearen Zeichnungen und Gouachen wie Helmine (1994) oder das Selbstbildnis als alte Frau (2008). Rissa schuf eine in sich verkapselte Welt, einen monolithischen Block. In einem Rissa-Museum wäre es still wie bei einer Andacht.

Selten begegnet man einem Menschen, der einen das ganze Leben begleitet. Sich über alle Glaubenssätze hinwegzusetzen und unbeirrt sein Eigenes zu verfolgen, hat Rissa mich gelehrt. Ihre Freundschaft bewahrt mich vor dem Gefühl des Fremdseins in dieser Welt.

Februar 2018

Jan Schüler
Geboren 1963 in Gießen
Freischaffender Künstler
Lebt in Düsseldorf