Christian Wittlich

VOM KATER SPIEGEL UND DEM COVER EINER PUNKROCK-PLATTE

Spiegel lautet der Titel einer Rissa-Leinwand (90 x 75 cm) aus dem Jahre 1976. Farbenprächtig zeigt die Arbeit in leinwandfüllender Frontalansicht einen aufmerksam blickenden Katzenkopf. Unter seinem Näschen hält er in seinem Maul einen kleinen rechteckigen Spiegel, der seine Nase reflektiert. Die Komposition wirkt formal ausgeglichen, also harmonisch, was für Rissa-Bilder semantisch gesehen nicht immer typisch ist:

Ihr Motivfundus ist breit angelegt und häufig geprägt von inhaltlichen Widersprüchen und Gegensätzen. Es gibt bei ihren Arbeiten auch befremdliche, teils sogar abstoßende Motive. In ihrer gegenständlichen Malerei stellt Rissa meistens „[…] ungewöhnliche Gegenstandsbeziehungen und Handlungen […]“[i] dar, die durch ihre eigene Formsprache zu einer neuen, vorher ungesehenen Bildrealität verschmelzen. Das ist ein Alleinstellungsmerkmal ihrer Malerei.[ii] Dabei geben Rissa-Bilder nicht selten Rätsel auf und fordern ihre Betrachter provozierend kognitiv heraus. Ihre raffiniert variablen, magisch-farbigen Bildkompositionen ziehen dabei die Betrachter schnell in ihren Bann, um in ihnen gedanklich nach und nach einen inhaltlichen Suchprozess anzustoßen. Decodieren lässt sich dabei eine Rissa‘sche Verschlüsselung, wenn überhaupt, nur nach längerer und ausdauernder Betrachtung. Dazu gehört auch ein Einordnen des Bildentstehungszeitraums in den dazugehörigen gesellschaftlich-politischen Kontext. Hier und da bietet die Künstlerin dem Betrachter über Elemente im Bild selbst oder auch über den Bildtitel Entschlüsselungshilfen zur Bildinterpretation an. Diese haben aber lediglich Angebotscharakter. Gelingt die Entschlüsselung, offenbart sich manchmal etwas Visionäres.

So können wir feststellen: Rissas Bilder, ob älteren oder neueren Datums, sind und bleiben inhaltlich aktuell, oft mit voller Brisanz und politischer Sprengkraft. In ihnen spiegeln sich der Scharfsinn und das geschichtlich-politisch umfangreiche Wissen dieser Malerin wider, die, seit ich sie kenne, das Weltgeschehen als kritische Betrachterin und Denkerin genauestens verfolgt.

Das Bild Spiegel kommt da aus einer etwas anderen Welt: Dieses Bild beinhaltet weder ein abstoßendes noch ein befremdliches oder ein provozierendes Thema, sondern eben den Kopf einer Katze mit rührendem Blick. Das Motiv könnte der kluge Kater namens Spiegel sein, ein Hauptcharakter des Märchens „Spiegel, das Kätzchen“ von Gottfried Keller.[iii] Bei Spiegel, so genannt wegen seines glänzenden Fells, handelt es sich also um keine gewöhnliche Katze. Sie ist in Kellers Märchen als kluger Überlebenskünstler und Sympathieträger dargestellt.

Im Motivfundus der Rissa-Bilder lässt sich diese Arbeit einer Vielzahl weiterer sehr gelungener Tierdarstellungen auf Leinwand und auf Papier zuordnen.

Die Außenform der Katze auf der Leinwand wird durch eine scharfe Kontur und einen in der Farbigkeit etwas kühler wirkenden Hintergrund klar abgegrenzt. Die Rissa-typischen, unterschiedlich großen Binnenformen der Katzenkopfdarstellung zeigen auch bei diesem Bild wieder einmal klar und eindringlich die eigenständige Form- und Farbwelt ihrer Bilder. Die Prägnanz der Rissa-Farbtöne, in einer Art „Schnipselform-Struktur“ angeordnet und einander optisch geschickt steigernd, verleihen diesem Bild einen sehr anmutigen, freundlichen und harmonischen Charakter.

Bezogen auf die Farbfelder ist die Arbeit Spiegel also Rissa-typisch und, bezogen auf die ausgeprägte Harmonie, die von ihrem Motiv ausgeht, Rissa-untypisch zugleich. Ihr fehlt eben dieses im Bildkomplex von Rissa so häufig vorkommende befremdliche Element. Damit ist es eben auch doch ein Bild für die Wohnstube.[iv] Wahrscheinlich hat genau diese dem Bild innewohnende Ausgeglichenheit meinem Vater gefallen. Um die Jahrtausendwende zeigte ihm Rissa einige ihrer Bilder, nachdem er ernste Kaufabsichten geäußert hatte. Dabei hatte er sich längst entschieden. Seine Wahl fiel auf den Spiegel der damals noch im Essbereich von Rissa und K.O. Götz hing. Für meinen Vater war es Liebe auf den ersten Blick. Rissa tat sich allerdings anfangs schwer damit, diese Bildauswahl zu akzeptieren. Nach einiger Bedenkzeit war es dann aber soweit. Der Kauf wurde mit der Vereinbarung, dass Rissas Spiegel auf Anfrage ausgestellt werden darf, besiegelt. Seit fast 20 Jahren hängt nun dieses wunderbare Bild, wenn es nicht für Ausstellungen verreist, im Flur meines Elternhauses im Nachbarort von Wolfenacker. Spiegel ist unser einziges Haustier und ein geliebtes Familienmitglied.

 

My hero is dead

„A secret to keep“ war der Name unserer Punkrock-Band, die ich mit ein paar Schulkameraden im Jahre 1999 auf dem Schulhof gegründet habe. Wir probten im Keller des Elternhauses unseres Schlagzeugers in Neuwied, dessen Eltern unseren Krach als „erfreulich- belebend“ empfanden, zumindest sagten sie das. Schnell hatten wir aus bereits bestehenden Texten und Textideen gemeinsam einige Lieder komponiert. Wir hatten unser gesamtes Taschengeld und vor allem alle Einnahmen aus diversen Jobs zusammengelegt und die Aufnahme einer 5-Song-Single beschlossen. Um dem der Punkrockmusik innewohnenden „Do-it-yourself-Charme“[v] gerecht zu werden, machten wir so gut wie alles an dieser Aufnahme selbst: Für die CD, die nur in einer Miniauflage von 50 Exemplaren erscheinen sollte, hatten wir die variierten Cover bereits gestaltet, die Songs an sich hatten wir im Gartenhaus meiner Eltern mit einem ausgeliehenen Mischpult aufgenommen, die Poster zur Release-Party waren gelayoutet und das beste Presswerk für die eigentliche Auflage von 500 Vinyl-Schallplatten im 7“-Format (17,5 cm Durchmesser) auserkoren. Ein mitreißendes Plattencover fehlte noch. Zu diesem Thema gab es damals einige Zusammenkünfte, aber nie eine Lösung. Da hatten wir die Idee, mal eben das freundliche Malerehepaar K.O. Götz und Rissa aus der Nachbarschaft anzusprechen.

Beide waren sofort von dem Vorhaben begeistert. Sie sagten spontan zu. Ich erinnere mich, dass Rissa die Texte zu den fünf Liedern haben wollte, um sich besser in die Thematik einarbeiten zu können. Das fand ich ungeheuer motivierend, denn uns halbstarke 18-Jährige hatte doch bis dato kaum jemand ernst genommen. Die beiden ließen nicht lange mit einer Antwort auf sich warten. Wie üblich kam ein Fax im Büro meines Vaters an:

„Lieber Christian, ich habe meine Seite der Plattenhülle fertig. Die Rose ist gelb und links der Hintergrund auch. Gefällt sie Dir? K.O. Götz muß noch entwerfen. Rissa – herzliche Grüße an Vater + Mutter. My hero is dead – 27.11.2000.“

Christian Wittlich - VOM KATER SPIEGEL UND DEM COVER EINER PUNKROCK-PLATTE

 

Meine Bandkollegen und ich waren baff! Rissa hatte aus dem Liedtext zum Song „The day my hero died“ ein Motiv gewonnen. Neben der gelb-orangefarbenen Rose zeigt das Cover einen übergroßen Totenkopf, der von einem treu, trist und trostlos blickenden Äffchen umklammert wird. Die Arbeit „My hero is dead“ (2000, Acryl auf Papier, 18,8 x 18,8 cm) und der dazugehörige Text drücken die Verzweiflung und Ohnmacht aus, die ein Hinterbliebener im Todesfall verspürt. Persönlich habe ich beim Textschreiben an die Grunge-Ikone, den Nirvana-Frontmann Kurt Cobain gedacht, dessen Suizid im Jahre 1994 für uns Musikliebhaber ein echter Schock gewesen war. Die Rückseite des Covers wurde von K.O. Götz gestaltet. Wir wollten etwas, das so kraftvoll, energiereich und lebendig war wie unsere Musik selbst. Ein schwarz-roter Kringel, ein bekanntes Motiv aus den 1950er-Jahren, ziert nun die Rückseite des Schallplattencovers. Nichts hätte besser zu unseren Vorstellungen passen können.

 

Christian Wittlich
Geboren 1981 in Neuwied am Rhein
Hochschuldozent, Gymnasiallehrer, Autor
Lebt in Koblenz


[i] Rissa (1966), zit. nach: Christoph Zuschlag, Rissa. Gemälde und Zeichnungen, hg. von Walter Smerling, Ausst.-Kat. Museum Küppersmühle Sammlung Grothe, Duisburg, Bonn 2003, S. 7.

[ii] K.O. Götz präzisierte diesen Gedanken, indem er schrieb „[…] Rissa zeigt vor allem, daß man mit Formen und Farben eine Bilderwelt zaubern kann, wie es eben nur mit dem Medium Malerei möglich ist, einer Malerei, die einmalig ist und die es in dieser Form bisher noch nicht gab“, K.O. Götz – Bemerkungen zu Rissas Malerei, in: Retrospektive Rissa, Ausst.-Kat. Märkisches Museum der Stadt Witten, Witten 1980, S. 14.

[iii] „Spiegel, das Kätzchen“ bildet den letzten Teil des ersten Bandes der 1856 erschienenen Novellensammlung Die Leute von Seldwyla von Gottfried Keller.

[iv] Rissa sagte einmal selbst: „Meine Bilder sind nichts für die Wohnstube“, zit. nach: Zuschlag 2003 (wie Anm. 1), S. 10.

[v] Damals war es auch üblich, dass man für eine Gage in Höhe des verfahrenen Spritgeldes ein 500 Euro wertvolles Auto mit 5000 Euro teurem Equipment belud, um dann mit fünf Personen in diesem Auto 500 Kilometer weit zu fahren, um endlich vor manchmal nur 15 Gästen zu spielen.