Rissa

Über meine Malerei, Juli 1977

(veröffentlicht im Katalog zur Ausstellung „Rissa – Gemälde und Zeichnungen“, 1978, AXIOM – GALERIE FÜR MODERNE KUNST, Köln)

Nachdem ich mehrere Jahre lang gegenstandslos gemalt und gezeichnet hatte,
wünschte ich mir 1964, wieder gegenständlich zu arbeiten. Und zwar wollte ich dies
(formal und inhaltlich betrachtet) weder in einem impressionistischen oder
expressionistischen Sinn, noch nach der Manier der alten „Neuen Sachlichkeit“ und
schon gar nicht in einer surrealistischen, symbolistischen oder dadaistischen Art tun.
Vielmehr suchte ich damals schon nach neuen Inhalten in Verbindung mit einer
neuen Malstruktur. Denn ich erkannte bald, daß eine tiefgreifende Umwandlung in
eine zukunftsträchtige gegenstandsbezogene Malerei nur mit der Erneuerung beider
Dimensionen, nämlich der formalen und der inhaltlichen, realisiert werden kann.

Auf der Suche nach einer eigenen künstlerischen Konzeption war meine
Aufmerksamkeit von Anfang an auf dies zwei Dimensionen gerichtet, d.h. auf die
Erfindung neuer Form-Farbstrukturen sowie auf neue ungewöhnliche
gegenständliche Setzungen bzw. Zusammensetzungen.

1966 formulierte ich den inhaltlichen Aspekt meiner Malerei folgendermaßen: Ich will
ungewöhnliche Gegenstandsbeziehungen und Handlungen darstellen, die in der
Wirklichkeit wohl vorkommen, jedoch seltenbeachtet werden. Darüber hinaus will ich
Gegenstände und Handlungen in einer Weise darstellen, wie es eben nur in der
Malerei möglich ist, aber bisher noch von keinem Maler realisiert wurde.

Nun entsteht eine originale künstlerische Konzeption nicht aus heiterem Himmel,
sondern sie entwickelt sich bei einem ernst zu nehmenden Künstler vorwiegend aus
zwei Quellen. Einmal erwächst sie aus einer Reihe von Fragestellungen, die sich
beim Studium unterschiedlicher künstlerischer Konzeptionen der Vergangenheit und
der Gegenwart ergeben (traditioneller Aspekt einer künstlerischen Konzeption). Zum
anderen aber ist eine eigene Konzeption ganz entscheidend auch von den
subjektiven, schöpferischen Einfällen, Ideen und Erkenntnissen des Künstlers
abhängig. Alle diese Faktoren sind die Voraussetzung dafür, daß ein bildender
Künstler mit der Zeit, wenn er Glück, Mut und Durchhaltevermögen hat, zu einer
eigenständigen künstlerischen Konzeption gelangt (innovativer Aspekt einer
künstlerischen Konzeption).

Wie war es nun bei mir? Welche Kunstströmungen gab es Anfang der sechziger
Jahre, denen eine besondere Bedeutung zukam und die mich in dieser Zeit derart
stimulierten, daß sie schließlich meine künstlerische Opposition herausforderten? Es

war einmal die Malerei des Informel, jene großartige, damals führende internationale
Kunstrichtung der Nachkriegsjahre, die ihren Höhepunkt bereits erreicht hatte.
Zweitens war es die aus den U.S.A. herübergekommene Bewegung des New dada
und der Pop art. Diese extrem unterschiedlichen Konzeptionen zogen mich quasi in
entgegengesetzter Richtung an. Die verschiedenen Varianten innerhalb des Informel
fesselten meine Aufmerksamkeit durch ihre Gegenstandslosigkeit und die damit
verbundene experimentelle formale Breite. Die rauhen Sitten der Pop-Artisten
verblüfften mich anfangs und regten mich nur insofern an, als sie mich bald wegen
ihrer formalen und inhaltlichen Banalität abstießen. Denn ich fand, daß letztlich eine
kleine Comic-Figur, durch mehr oder weniger gebrauchsgraphische Methoden auf
eine riesige Leinwand übertragen, konzeptionell gesehen einen Rückgriff in die
Klamottenkiste vom Marcel Duchamp darstellte mit den Mitteln der Plakatmalerei, ein
Vorgang, der mir nicht sehr originell vorkam und der, wie wir heute sehen,
künstlerisch nicht weiterführte. Viele Artefakte der Pop art entstanden nach dem
Konzept des guten alten Ready made. Diese Zufallswahl von einigen industriell oder
seriell hergestellten Gegenständen war es schließlich, womit Marcel Duchamp 1913
gegen die Malerei antrat und sich gegen das Tafelbild entschieden hatte.

Gegen eine derartige Ausweitung diese bilderstürmerichen Konzepts Ende der
fünfziger Jahre, Anfang der sechziger Jahre und kurz danach gegen die Reduzierung
der Malerei auf die Einfärbung geometrischer Formen (Op art und Hard edge) hatte
ich entschiedene Einwände. Denn ich strebte eine und farbig vielfältige,
experimentelle und entwicklungsfähige Malerei an. Warum, so fragte ich mich, sollte
diese Art Malerei plötzlich überholt sein und abtreten zugunsten von unmalerischen,
alten Konzeptionen (Dada und Bauhaus), die, wie man heute sieht, sehr oft zu
eklektischen Unverbindlichkeiten führten?

Ich erkannte, daß gerade innerhalb der Malerei die Entwicklung neuer originaler
künstlerischer Konzeptionen möglich und notwendig sei, um Werke hervorzubringen,
die sich durch Einmaligkeit im Entstehungsprozeß und im Aussehen auszeichnen
würden.

Also begann ich 1964 mit meiner gegenständlichen Malerei gegen den sich heute
glücklicherweise abschwächenden malereifeindlichen Trend anzutreten. Ich
entschied mich für das originale künstlerische Tafelbild, erneuert auf beiden Ebenen,
der formalen wie der inhaltlichen.

Nun gibt es Beispiele in der europäischen Malerei für den plötzlichen Abbruch einer
stilistischen Entwicklung, deren potentielle Möglichkeiten zum Teil bis heute nicht
ausgeschöpft sind. Denn es verlaufen künstlerische Entwicklungen selten linear,
sondern meistens in Sprüngen, wodurch konzeptionell Lücken entstehen. Einen
Grund dafür sehe ich u.a. darin, daß die starken künstlerischen Persönlichkeiten der
nachfolgenden Generationen diese konzeptionellen Lücken entweder nicht

erkannten oder für nicht interessant genug hielten, um sie künstlerisch zu nutzen.
Solche Lücken und Diskontinuitäten fielen mir auf, nicht etwa nur im
kunsthistorischen und kunstsoziologischen Sinn, sondern durch meine konzeptionell-
anschauliche Sehweise. Erkenntnisse dieser Art, gewonnen aus der
Auseinandersetzung mit der Malerei, v.a. der des 19. Jahrhunderts, besonders aber
auch der jüngsten Vergangenheit, bestärkten mich in meinem Vorhaben, in der
Malerei etwas anzustreben, was noch nicht da war.

Und so kam es bei mir 1964, nach der Konfrontation mit dem Informel und der Pop
art zu einer Initialzündung, indem ich gewisse künstlerische Aspekte der
europäischen Malerei (formale Analyse, Form- und Farbdifferenzierung) beim
Arbeiten wieder aufnahm und weiterentwickelte.

Durch das Studium der Farbwahlen und Farbstrukturierungen z.B. von Grünewald,
Vermeer, Seurat, Van Gogh und Cezanne lernte ich nach und nach, meine eigene
Farbsystematik zu entwickeln. Mich interessierte vor allem die Aufrechterhaltung
einzelner eindeutiger Farbtöne im chromatischen Ensemble eines Bildes; zudem
wollte ich eine möglichst große Vielfalt beim Zusammensetzen solcher Farbtonfelder
erreichen. Die ist einer der Gründe, warum ich meinen genau abgegrenzten
Pinselduktus für Kleinfelder erfand. Zu anderen beschäftigte mich die Aufgliederung
und Trennung von Farbstrukturen, z.B. nach ihrer komplementären Wirkung,
dargestellt beispielsweise in dem rot-grün kontrastierenden Bild „Das Geheimnis“
(1966) oder in dem orange-blau, violett-gelb kontrastierenden Bild „Fettprobe“ (1967).
Weiterhin erprobte ich die polychrome Wirkung von mehr oder weniger gesättigten
Primär- und Sekundärfarben , dargestellt an dem rot-gelb-blau kontrastierenden Bild
„Undine“ (1966) oder in dem rot-grün, gelb-violett, orange-blau kontrastierenden Bild
„Montjoie“ (1972). Als dritte Möglichkeit fand ich, für meine Malerei besonders
lohnend und faszinierend, die Gegenüberstellung von mehreren Erdfarbtönen
(Tertiärfarben) mit einigen wenigen Primär- oder Sekundärfarben. Derartige
Farbkompositionen werden bei vielen meiner Bilder sichtbar, z.B. bei „Schneewitchen
I“ (1965), „Lucky India“ (1970), „Der Kardinal“ (1969) oder „Ein Melancholiker“ (1975).

Die ersten Geheimnisse im Umgang mit Formproblemen in der Malerei lernte ich
durch das Studium gewisser Bilder von Grünewald, Vermeer, Ingres, Seurat,
Cezanne, Juan Gris und K.O. Götz kennen. Da z.B. in der Malerei von K.O. Götz
häufig neue, ungewöhnliche Kompositionsschemata vorkommen, waren diese sehr
oft Auslöser für meine gegenständlichen Kompositionen und sind es heute in
verstärktem Maße. Die Farbe fasse ich vorwiegend formunterstützend auf. Ihr
Stimmungswert oder die sogenannten Anmutungsqualitäten sind für mich nur ein
Sekundärproblem.

Die ersten Ansätze meiner speziellen Binnenstrukturierung z.B. innerhalb einer Figur
gehen u.a. auf gewisse Ideen von Juan Gris zurück. Seine Auffassung von der

Gleichwertigkeit aller Flächenkompartimente innerhalb eines Bildes und seine
Vorstellung von der fortlaufenden Verzahnung von Grund und Muster führten mich
schließlich zu meiner hartabgesetzten Bildtektonik mit einer bis zum Bildrand
gleichwertigen Formdarstellung.

Hervorzuheben wäre schließlich noch die Rolle, die der Surrealismus und das vom
Surrealismus kommende Informel bei der Bildung meiner künstlerischen Konzeption
gespielt haben. In beiden Kunstrichtungen kommt dem Zufall eine wesentliche
Bedeutung zu, nicht als Selbstzweck, sondern als ein Gestaltungsmittel. Durch
bewußte Einbeziehung des Zufalls wollten die Protagonisten beider Richtungen
Neues und bisher unbekannte Lösungen erreichen. Man denke beim Surrealismus
z.B. an den poetisch wirkenden Zufall der automatischen bzw. halbautomatischen
Schreibweise eines Desnos oder die zufällige Begegnung zwischen einer Rose und
einem Seziertisch. Doch in der Malerei des Surrealismus ist dies automatische bzw.
halbautomatische Methode, außer in den Frottagen, Montagen und den übermalten
Decalcomanien von Max Ernst, nicht voll entwickelt worden. Denn der kontrollierende
Verstand war bei den relativ lange dauernden malerischen Operationen schnell
wieder mitbestimmend, so daß hier eigentlich nicht mehr von einem Automatismus
gesprochen werden kann. Den Halbautomatismus in breiter Form entwickelt und
damit das Prinzip des Zufalls sich zunutze gemacht, haben erst einige Maler des
Informel, die in ihrer Jugend dem Surrealismus anhingen oder nahestanden. Man
denke z.B. an das Farbentripping von Pollok, an die skripturale Malweise von
Mathieu oder an die in wenigen Sekunden mit extrem breiten Pinseln und Rakeln
hingeschleuderten Farbformschwünge eines K.O. Götz. Bei diesen drei Künstlern
wird durch die Schnelligkeit des Farbformauftrags die Kontrolle während des
Malaktes stark eingeschränkt; dadurch kommt Zufälliges mit ins Spiel, und es
entstehen Formelemente und Formverknüpfungen, die bei langsamem Malen nie
entstehen könnten.

Warum dieser Exkurs über die Bedeutung des Halbautomatismus und des Zufalls
innerhalb des Informel und des Surrealismus? Wollte ich hier doch nur die
Grundlagen meiner eigenen künstlerischen Konzeption aufzeigen. Meine Antwort:
Die Anwendung des Zufalls wurde von den Surrealisten gegenständlich-formal
angestrebt, aber nur teilweise erreicht. Die Informellen haben den Zufall als Mittel
ungegenständlich-formal voll angewandt und ausgearbeitet. So versuchte auch ich
den Zufall bei der Findung meiner gegenstandsbezogenen Bildideen auszunutzen,
allerdings in einer völlig anderen Weise. Ich verwende das Prinzip des Zufalls auf
zweifache Art. Entweder ist es eine ungewöhnliche, selten beachtete, Situation im
Alltag, die mir schlagartig auffällt und spontan, d.h. in Sekundenschnelle, in mir eine
Bildidee auslöst. Oder ich nutze den Zufall, indem ich konstruktiv vorgehe, d.h. ich
addiere und koordiniere zufällige visuelle Einfälle in ungewöhnlicher Weise, Einfälle,
die ich zu verschiedenen Zeitpunkten hatte. Ich erreiche dadurch eine poetische
Gegenständlichkeit, die sich z.B. vom Surrealismus deutlich abhebt, weil ich nie
heterogene gegenständliche Motive miteinander verschmelze, sondern in ihren

Umrissen beibehalte. Ich benutze auch keine Traumbilder und berufe mich nicht auf
das sogenannte Unbewußte.

Der formale Aspekt bei einer spontan auftretenden Bildidee, also Großkomposition
und Bildschema, ist bei mir immer gleichzeitig mitgegeben. Dagegen stehen bei den
additiven Bildideen Großkomposition und Schema von Anfang an fest, d.h. die
gegenständlichen visuellen Einfälle (die ich sozusagen auf Lager habe) werden
additiv und konstruktiv in ein bestehendes formales Schema eingepaßt. Durch Zufall
entstehen auf diese Weise inhaltliche Beziehungen, die vorher nicht eingeplant
werden können, die mich selbst überraschen und die mir jetzt willkommen sind. Eine
Verfremdung entsteht, die mehr oder weniger poetisch, manchmal auch symbolisch,
wirkt. Mit Symbolismus jedoch haben meine Bilder nichts zu tun, denn ich strebe
keine symbolischen Darstellungen an. Wenn manches in meinen Bildern symbolisch
wirkt (was ich zugebe), so ist dies rein zufällig und liegt meist an der Phantasie des
jeweiligen Betrachters; es ist eine Projektion, die legitim und manchmal sogar
willkommen ist.

Die formale und farbige Binnengliederung meiner Figuren und Hintergründe, sowie
die Räume zwischen den Figuren werden hingegen vorwiegend unter dem
Gesichtspunkt künstlerischer Formerfindung, Formentdeckung und einem genau
abgegrenzten Pinselduktus (Kleinformen) durchgeführt.

Warum wurde diese Methode des Bilderfindens und Machens für mich so wichtig
(und für den unvoreingenommenen Betrachter so verblüffend), daß ich die
Entwicklung meiner künstlerischen Konzeption darauf aufbauen konnte? Ich glaube,
diese Methode ist deshalb so tragend und fruchtbar, weil ich durch sie beim Malen
(und der Betrachter beim Wahrnehmen) einen großen Freiheitsspielraum habe,
sowohl in der Form- wie in der Inhaltsentwicklung. Denn Freiheit beim Arbeiten und
Anschauen bedeutet für mich sehr viel! Mit anderen Worten: Ich bin keinem
dogmatischen formalen oder inhaltlichen Programm verpflichtet, welches mir
sicherlich mehr Einschränkungen auferlegen würde als es die Elemente meiner
jetzigen künstlerischen Konzeption tun.

Der interessierte Betrachter meiner Bilder kann bei der Wahrnehmung der Form-
Farbbeziehungen ungehemmt seinen Augen und Vorstellungen freien Lauf lassen.
Das gilt analog bei der Wahrnehmung der inhaltlichen Aspekte meiner Bilder, d.h. der
Betrachter kann frei assoziieren.

So diszipliniert die Formfarbfaktur meiner Bilder auch erscheinen mag, ihre
inhaltlichen Aspekte wollen die Phantasie des Betrachters anregen. Meine Bilder
sind Anstöße, sie wollen provozieren und Neues bringen. Aber sie zwingen den
Betrachter nicht in eine bestimmte Richtung, weder formal noch inhaltlich.

Rissa, Juli 1977